Model: Benj Baumann |
Musik: The Offspring - The Kids Aren't Alright
Wie viel Bier: 4
Erstes Mal: Mit 16 im Sprachaufenthalt in Nizza. Häschen erzählt gern, dass es am Strand war. Sie war Holländerin, und nach den Sommerferien schrieben sie sich eine Weile, bis Häschen herausfand, dass sie einen Freund hatte.
Drei Luftballons
Meine Grossmutter bringt mir Kaffee auf den Balkon. Schwarz, golden auf dem Messinglöffel, mit viel Zucker. Sie setzt sich zu mir und erzählt von den Luftballons, die heute früh auf ihrem Balkon gelandet sind. Einfach vom Himmel gefallen, sagt sie und deutet in die Ecke, wo staubig und verlegen etwa fünf Ballons liegen, an den perlmutfarbenen Plastikschnüren zusammen geknüpft, smaragdgrün, karminrot und mädchenviolett. Ich würde auch mal gerne auf irgendeinem Balkon landen.
Hemd mit Muster
Ich
war nicht betrunken gestern Nacht, aber die Welt spannte sich vor mir
auf wie ein bedrucktes Tuch mit verworrenen Mustern und Farben, die
man nicht einordnen kann. Die Abende in den Sommerferien sind bisher
ineinander gelaufen: Ich ging aus dem Haus, denke: Heute passiert
was. Ich habe immer so ein blauweiss kariertes Hemd getragen. Das
habe ich mir irgendwann während der letzten Prüfungen gekauft, als
wir mal nach der Schule in die Stadt gingen und Fee noch Unterwäsche
kaufen wollte. Sie wollte das bestimmt, damit die anderen Männer,
also Adorno und der Papagei und Quentin, sie sich nachher in dieser
Unterwäsche vorstellten. Ich glaube, Fee mag die Vorstellung, dass
sich jemand wegen ihr einen runterholt.
Da
habe ich mir jedenfalls, während die anderen vor dem
Unterwäscheregal standen, in der Männerabteilung dieses Hemd
gekauft. Es roch nach Sommer, nach Freiheit, nach am Konzert in der
ersten Reihe stehen. Das habe ich mir während der Prüfungen immer
vorgestellt: Dass ich diesen Sommer an irgendeinem Konzert in der
ersten Reihe stehen werde. Ich hatte nie eine genaue Vorstellung, was
für eines das sein konnte. Obwohl wir den ganzen Sommer oft über
Konzerte und Musik und Festivals gesprochen haben und wer wo auftritt
und welche Künstler gut und welche scheisse sind, fällt mir jetzt,
im Rückblick, ein, dass ich auf keinem einzigen Konzert war. Das
Hemd war immer Verheissung, leere Verheissung für einen Abend, an
dem wir am Schluss doch nur im Park sassen und nichts passierte. Ich
glaube, die anderen störte das nicht so wie mich. Adorno war froh,
dass überhaupt jemand ihn dabei haben wollte. Una machte die
Konversation mit der ganzen Gruppe, indem sie Bemerkungen über
Bäume, Wolkenmuster oder die verkommene Gesellschaft fallen liess,
wobei Adorno ihr an den Lippen hing. Aila hing gedankenverloren an
ihrer Bierflasche, brauchte lächerlich lange, um sie leer zu
trinken, und versuchte gar nicht erst, witzig zu sein; und Fee, ja,
Fee wartete wohl auch auf etwas. Sie kam nicht jeden Abend mit, als
wollte sie sich dadurch rar machen, und einmal sahen wir sie mit
irgendeinem Typen in einer dieser abstossend gepflegten Bars in der
Nähe des Bahnhofes sitzen, und der Typ war auch ganz abstossend
gepflegt. Seither kann ich Fee noch weniger ernst nehmen als vorher,
und den anderen geht es, glaube ich, ähnlich.
Der
Papagei verschwand meist um halb zwölf und meinte, ein Kumpel habe
ihm gerade noch geschrieben, er nehme den Achtunddreissiger in die
andere Stadt, wo mehr abgehe als hier bei uns. Das betonte er immer:
Den Achtunddreissiger in die andere Stadt,
als mache ihn die Angabe der Abfahrtszeit des Schnellzuges
glaubwürdiger. Wir kicherten dann ein wenig und machten ein paar
Sprüche über den Papagei, aber irgendwann waren wir es leid und
fragten uns nur noch, wieso er immer noch bei uns auftauchte.
Neue Mädchen
In
diesen Nächten in den Sommerferien hörte ich beim Nachhausefahren
The Moody Blues. Wenn ich zu blau war oder es so spät war, dass
keine Busse mehr fuhren, spazierte ich zur Wohnung meiner Oma, die in
der Stadt wohnte. In keiner dieser Nächte hat sich etwas verändert,
und wenn ich auf die Sommerferien zurückblicke, waren sie doch alles
in allem ziemlich unnötig. Das Leben zog sich wie die Fäden von
eingetrocknetem Weissleim. Die Minuten vor dem Gehen waren immer die
Aufregendsten.
Gestern,
bei J, waren ein paar neue Mädchen da, alle hübsch und einförmig,
die Art Mädchen, neben denen Una aussieht wie eine ägyptische
Göttin, neben denen Aila untergeht und Fee gar nicht erst
wahrgenommen wird, weil sie Ballerinas und keine DocMartens trägt.
Ich mag diese Mädchen eigentlich ganz gern, die sich im Sommer
originell fühlen, weil sie an Metalopenairs gehen und ausgefranste
Hotpants tragen, die so kurz sind, dass man von unten mit der Hand
hineinfassen kann. So denke ich mir das jedenfalls, und ich glaube,
die Mädchen wissen das auch, sonst würden sie sie nicht anziehen.
Ich
trage die leere Kaffeetasse in die Küche. Dort steht meine
Grossmutter und füttert ihre Katze und sie fragt mich, ob ich einen
schönen Abend gehabt habe. Ich sage ja.
Für
einen Moment war alles ganz einfach, und ich half dem Mädchen beim
Ausziehen, öffnete mit der Rechten den Verschluss ihres BHs und hob
sie mit der Linken etwas an, damit sie sich aufs Klavier setzte, also
auf den Deckel der Tastatur, der unten war, versteht sich. Die Tür
war abgeschlossen, und die Höhe des Deckels stimmte auch, ich hatte
das bedacht, und wie sie so vor mir sass war sie eigentlich auch ganz
hübsch, vor allem ihre Schultern, ich weiss ja nicht wieso, aber ich
mag Mädchenschultern sehr.
Vorher
habe ich noch mit Aila geredet. Das zeigte irgendwie, dass ich
ziemlich verzweifelt war. Eigentlich ist Aila in Ordnung, aber sie
ist so ein Mädchen mit bodenlangen Blumenkleidern, die ganz übel
aussehen an ihr, und richtig alten Lederjacken, die so alt sind, dass
sie eben schon nicht mehr cool aussehen. Zudem betont sie immer, wie
viel sie von Kunst versteht, und die Geschichte von Vincent Van Gogh
und seinem abgeschnittenen Ohr und was dieses abgeschnittene Ohr für
eine Symbolik beinhaltet, habe ich mir in ihrer Gegenwart schon
zweihundertmal anhören müssen. Sie ist individuell, aber auf eine
mühsame Art. Zum Glück war ich nicht mit ihr auf der Bezirksschule.
Bestimmt sass sie in der ersten Reihe und kaute nie Kaugummi während
des Unterrichts. So ist sie.
Trauerweide
Ich
gehe jetzt an den Fluss, denke ich. Ich will über die letzte Nacht
nachdenken. Es gibt eine Trauerweide am Fluss. Das wissen nur wenige,
weil sie nicht so direkt am Fluss ist, nicht dort unter der Brücke,
wo es immer nach Kotze und Bier riecht. Ein paar hundert Meter
weiter, wo das Flussufer breiter ist und nicht gleich die
Bonzenhäuser dran grenzen. Meine Oma gibt mir eine Schachtel
Heidelbeeren mit. Ich ziehe meine Schuhe an. Eine Jacke brauche ich
nicht, draussen ist es warm.
Unter
der Trauerweide stecke ich mir eine Lucky Strike an. Das Gras kitzelt
im Nacken. Der braune, schmutzige Fluss schleppt den trägen
Vormittag an mir vorbei. Ich denke an das Mädchen von gestern: An
ihre Beine in den kurzen Hosen, an ihr Lächeln, das ein bisschen
arrogant war. Ich kann mich gut an ihre Schlüsselbeine erinnern: Die
Schatten, die sie warfen. Ich weiss nicht mehr, wie ihre Stimme
klang, aber ich kann es mir gut vorstellen.
Seltsamerweise
träume ich von Una, als kurz darauf die Blätterschatten über mir
mit dem Himmel über ihnen verschwimmen und die Geräusche vom Fluss
mit der vorgestellten Stimme des Mädchens auf dem Klavier. Ich weiss
nicht genau, was ich träume, aber es spielt sich auf dem Balkon von
Js Haus ab, den Schlafzimmer-, nicht den Wohnzimmerbalkon.
Es wird schon hell
Ich
wache auf und erinnere mich, dass ich da mit Tonna geredet habe, auf
diesem Balkon. Nachdem ich das Mädchen vom Klavier zur
Bushaltestelle gebracht hatte, ihr grosser Bruder holte sie da ab,
oder so. Wenn der wüsste. Ich hatte mich dann in irgendeinem
Schlafzimmer, ich glaube, es war das von Js Eltern, jedenfalls hatte
es einen Balkon, aufs Bett gelegt. Ich musste da eingeschlafen sein.
Als ich aufwachte, merkte ich, dass Tonna auch im Zimmer war, sie
sass auf einem Stuhl und schaute durch die Balkontüre nach draussen.
Sie sah ziemlich durch aus, und ich glaube, ich sagte irgendwas zu
ihr, ich weiss nicht mehr was, jedenfalls fing Tonna darauf an zu
weinen, so richtig zu weinen. Die Luft war grauweiss vom Rauch,
obwohl J eigentlich mal gesagt hatte, man dürfe drinnen nicht
rauchen. Bestimmt hat Quentin damit angefangen, der macht sowas immer
absichtlich. Ich konnte Tonna nur schemenhaft erkennen; ich hörte
sie wimmern und sah, wie sich ihre Schultern vor- und zurückbewegten.
Ich ging zu ihr hin und nahm sie am Arm und zog sie auf den Balkon,
da ich keine Lust hatte, mit ihr in diesem merkwürdigen Schlafzimmer
mit der dunklen Tapete zu sitzen.
Tonna
stellte sich ans Balkongeländer mit dem Rücken zum Zimmer, den Kopf
in die linke Handfläche gestützt, als würde sie auf jemanden
warten. Sie drehte einen Plastikbecher in der rechten Hand auf die
eine, dann auf die anderen Seite, und beobachtete, wie Reste eines
orangefarbenen Mischgetränkes in den Rillen des Bechers ihre Kreise
ziehen. Danach redeten wir, die Worte sind noch da, aber die Bilder
dazu schwinden, als wäre Tonna immer hinter dem Rauch versteckt
gewesen.
Tonna Es wird schon
hell.
Häschen Drinnen
sieht man ja echt fast nix mehr.
Tonna Schau
dir den Himmel an.
Häschen
Ich
hasse es, wenn die Sonne aufgeht, bevor ich schlafen gehe. Allgemein
wenn die Sonne während der Party aufgeht. Sie gibt mir immer das
Gefühl, das alles zu Ende ist.
Tonna Oder
dass es gerade wieder anfängt.
Häschen Eben,
es fängt schon wieder an. Auf genau dieselbe Art wie am Vortag wie
am Vortag wie am Vortag. Die Nacht gibt dir das Gefühl, dass alles
sich in diesen Stunden verändern kann und dass am nächsten Tag
nichts mehr ist wie zuvor. Wenn du dann die Sonne auf genau
dieselbe Weise aufgehen siehst, wie sie es alle Tage zuvor getan
hat, macht das alles, was in der Nacht geschen ist, bedeutungslos.
Tonna Wenn
es nicht bedeutungslos wäre, würde es niemand tun. Wenn alles, was
wir an Partys tun, irgendeine Bedeutung hätte, würden wir alle
am Boden sitzen, uns anschweigen und Himbeeren essen.
Häschen Was
meinst du damit?
Tonna An
Partys ist doch alles scheissegal. Wieviel du trinkst, mit wem du was
anfängst, wieviele Zigaretten du schnorrst und an wen du dein Gras
verschenkst. Du musst nur Spass haben. Spass ist das oberste
Gebot. Und wenn du keinen hast, dann gehörst du da nicht hin.
Häschen Du
hast keinen, oder?
Tonna Was?
Häschen Spass.
Häschen Spass.
Tonna Ich
weiss nicht.
Häschen Klang
jedenfalls nicht so.
Tonna Ich
denke, ich hätte Spass, wenn ich mich jetzt auf dieses Geländer
setzen würde.
Häschen Du
spinnst.
Tonna
setzte sich aufs Geländer. Ich lehnte mich vorsichtig ein wenig
darüber. Tonna sah nach unten zur terrakottafarbenen Regenrinne
voller Laub und Zigarettenstummel. Ich stand noch eine Weile da. Dann
ging ich rein und hob eine halbvolle Ginflasche vom Boden auf. Ich
ging zurück auf den Balkon und setzte mich mit der Flasche neben
Tonna aufs Geländer.
Beeren
Ich
denke noch ein wenig über das Gespräch nach und rauche noch eine
Zigarette, als ich durch die Stadt zurückgehe und Una treffe. Ich
erinnere mich an das gute Gefühl im Traum mit ihr, mir fallen die
Heidelbeeren in meiner Tasche ein und wir gehen zurück zum Fluss.
Sie sagt, sie mag den Platz unter der Trauerweide.
Ich küsse Una an
diesem Morgen. Ihre Lippen sind ziemlich hart und ganz anders als die
von dem Mädchen gestern auf dem Klavier, dem Mädchen ohne Namen.
Sie erzählt nachher irgendwas von Adorno, aber ich höre ihr kaum
mehr zu. Ich gehe zu meiner Oma, schlafen. Die übrig gebliebenen
Heidelbeeren bleiben am Fluss liegen.