Häschen

Model: Benj Baumann
Alter: 17

Musik: The Offspring - The Kids Aren't Alright

Wie viel Bier: 4

Erstes Mal: Mit 16 im Sprachaufenthalt in Nizza. Häschen erzählt gern, dass es am Strand war. Sie war Holländerin, und nach den Sommerferien schrieben sie sich eine Weile, bis Häschen herausfand, dass sie einen Freund hatte.







Drei Luftballons
Meine Grossmutter bringt mir Kaffee auf den Balkon. Schwarz, golden auf dem Messinglöffel, mit viel Zucker. Sie setzt sich zu mir und erzählt von den Luftballons, die heute früh auf ihrem Balkon gelandet sind. Einfach vom Himmel gefallen, sagt sie und deutet in die Ecke, wo staubig und verlegen etwa fünf Ballons liegen, an den perlmutfarbenen Plastikschnüren zusammen geknüpft, smaragdgrün, karminrot und mädchenviolett. Ich würde auch mal gerne auf irgendeinem Balkon landen.



Hemd mit Muster
Ich war nicht betrunken gestern Nacht, aber die Welt spannte sich vor mir auf wie ein bedrucktes Tuch mit verworrenen Mustern und Farben, die man nicht einordnen kann. Die Abende in den Sommerferien sind bisher ineinander gelaufen: Ich ging aus dem Haus, denke: Heute passiert was. Ich habe immer so ein blauweiss kariertes Hemd getragen. Das habe ich mir irgendwann während der letzten Prüfungen gekauft, als wir mal nach der Schule in die Stadt gingen und Fee noch Unterwäsche kaufen wollte. Sie wollte das bestimmt, damit die anderen Männer, also Adorno und der Papagei und Quentin, sie sich nachher in dieser Unterwäsche vorstellten. Ich glaube, Fee mag die Vorstellung, dass sich jemand wegen ihr einen runterholt.



Da habe ich mir jedenfalls, während die anderen vor dem Unterwäscheregal standen, in der Männerabteilung dieses Hemd gekauft. Es roch nach Sommer, nach Freiheit, nach am Konzert in der ersten Reihe stehen. Das habe ich mir während der Prüfungen immer vorgestellt: Dass ich diesen Sommer an irgendeinem Konzert in der ersten Reihe stehen werde. Ich hatte nie eine genaue Vorstellung, was für eines das sein konnte. Obwohl wir den ganzen Sommer oft über Konzerte und Musik und Festivals gesprochen haben und wer wo auftritt und welche Künstler gut und welche scheisse sind, fällt mir jetzt, im Rückblick, ein, dass ich auf keinem einzigen Konzert war. Das Hemd war immer Verheissung, leere Verheissung für einen Abend, an dem wir am Schluss doch nur im Park sassen und nichts passierte. Ich glaube, die anderen störte das nicht so wie mich. Adorno war froh, dass überhaupt jemand ihn dabei haben wollte. Una machte die Konversation mit der ganzen Gruppe, indem sie Bemerkungen über Bäume, Wolkenmuster oder die verkommene Gesellschaft fallen liess, wobei Adorno ihr an den Lippen hing. Aila hing gedankenverloren an ihrer Bierflasche, brauchte lächerlich lange, um sie leer zu trinken, und versuchte gar nicht erst, witzig zu sein; und Fee, ja, Fee wartete wohl auch auf etwas. Sie kam nicht jeden Abend mit, als wollte sie sich dadurch rar machen, und einmal sahen wir sie mit irgendeinem Typen in einer dieser abstossend gepflegten Bars in der Nähe des Bahnhofes sitzen, und der Typ war auch ganz abstossend gepflegt. Seither kann ich Fee noch weniger ernst nehmen als vorher, und den anderen geht es, glaube ich, ähnlich.

Der Papagei verschwand meist um halb zwölf und meinte, ein Kumpel habe ihm gerade noch geschrieben, er nehme den Achtunddreissiger in die andere Stadt, wo mehr abgehe als hier bei uns. Das betonte er immer: Den Achtunddreissiger in die andere Stadt, als mache ihn die Angabe der Abfahrtszeit des Schnellzuges glaubwürdiger. Wir kicherten dann ein wenig und machten ein paar Sprüche über den Papagei, aber irgendwann waren wir es leid und fragten uns nur noch, wieso er immer noch bei uns auftauchte.


Neue Mädchen
In diesen Nächten in den Sommerferien hörte ich beim Nachhausefahren The Moody Blues. Wenn ich zu blau war oder es so spät war, dass keine Busse mehr fuhren, spazierte ich zur Wohnung meiner Oma, die in der Stadt wohnte. In keiner dieser Nächte hat sich etwas verändert, und wenn ich auf die Sommerferien zurückblicke, waren sie doch alles in allem ziemlich unnötig. Das Leben zog sich wie die Fäden von eingetrocknetem Weissleim. Die Minuten vor dem Gehen waren immer die Aufregendsten.



Gestern, bei J, waren ein paar neue Mädchen da, alle hübsch und einförmig, die Art Mädchen, neben denen Una aussieht wie eine ägyptische Göttin, neben denen Aila untergeht und Fee gar nicht erst wahrgenommen wird, weil sie Ballerinas und keine DocMartens trägt. Ich mag diese Mädchen eigentlich ganz gern, die sich im Sommer originell fühlen, weil sie an Metalopenairs gehen und ausgefranste Hotpants tragen, die so kurz sind, dass man von unten mit der Hand hineinfassen kann. So denke ich mir das jedenfalls, und ich glaube, die Mädchen wissen das auch, sonst würden sie sie nicht anziehen.



Ich trage die leere Kaffeetasse in die Küche. Dort steht meine Grossmutter und füttert ihre Katze und sie fragt mich, ob ich einen schönen Abend gehabt habe. Ich sage ja.

Für einen Moment war alles ganz einfach, und ich half dem Mädchen beim Ausziehen, öffnete mit der Rechten den Verschluss ihres BHs und hob sie mit der Linken etwas an, damit sie sich aufs Klavier setzte, also auf den Deckel der Tastatur, der unten war, versteht sich. Die Tür war abgeschlossen, und die Höhe des Deckels stimmte auch, ich hatte das bedacht, und wie sie so vor mir sass war sie eigentlich auch ganz hübsch, vor allem ihre Schultern, ich weiss ja nicht wieso, aber ich mag Mädchenschultern sehr.



Vorher habe ich noch mit Aila geredet. Das zeigte irgendwie, dass ich ziemlich verzweifelt war. Eigentlich ist Aila in Ordnung, aber sie ist so ein Mädchen mit bodenlangen Blumenkleidern, die ganz übel aussehen an ihr, und richtig alten Lederjacken, die so alt sind, dass sie eben schon nicht mehr cool aussehen. Zudem betont sie immer, wie viel sie von Kunst versteht, und die Geschichte von Vincent Van Gogh und seinem abgeschnittenen Ohr und was dieses abgeschnittene Ohr für eine Symbolik beinhaltet, habe ich mir in ihrer Gegenwart schon zweihundertmal anhören müssen. Sie ist individuell, aber auf eine mühsame Art. Zum Glück war ich nicht mit ihr auf der Bezirksschule. Bestimmt sass sie in der ersten Reihe und kaute nie Kaugummi während des Unterrichts. So ist sie.




Trauerweide
Ich gehe jetzt an den Fluss, denke ich. Ich will über die letzte Nacht nachdenken. Es gibt eine Trauerweide am Fluss. Das wissen nur wenige, weil sie nicht so direkt am Fluss ist, nicht dort unter der Brücke, wo es immer nach Kotze und Bier riecht. Ein paar hundert Meter weiter, wo das Flussufer breiter ist und nicht gleich die Bonzenhäuser dran grenzen. Meine Oma gibt mir eine Schachtel Heidelbeeren mit. Ich ziehe meine Schuhe an. Eine Jacke brauche ich nicht, draussen ist es warm.



Unter der Trauerweide stecke ich mir eine Lucky Strike an. Das Gras kitzelt im Nacken. Der braune, schmutzige Fluss schleppt den trägen Vormittag an mir vorbei. Ich denke an das Mädchen von gestern: An ihre Beine in den kurzen Hosen, an ihr Lächeln, das ein bisschen arrogant war. Ich kann mich gut an ihre Schlüsselbeine erinnern: Die Schatten, die sie warfen. Ich weiss nicht mehr, wie ihre Stimme klang, aber ich kann es mir gut vorstellen.



Seltsamerweise träume ich von Una, als kurz darauf die Blätterschatten über mir mit dem Himmel über ihnen verschwimmen und die Geräusche vom Fluss mit der vorgestellten Stimme des Mädchens auf dem Klavier. Ich weiss nicht genau, was ich träume, aber es spielt sich auf dem Balkon von Js Haus ab, den Schlafzimmer-, nicht den Wohnzimmerbalkon.




Es wird schon hell
Ich wache auf und erinnere mich, dass ich da mit Tonna geredet habe, auf diesem Balkon. Nachdem ich das Mädchen vom Klavier zur Bushaltestelle gebracht hatte, ihr grosser Bruder holte sie da ab, oder so. Wenn der wüsste. Ich hatte mich dann in irgendeinem Schlafzimmer, ich glaube, es war das von Js Eltern, jedenfalls hatte es einen Balkon, aufs Bett gelegt. Ich musste da eingeschlafen sein. Als ich aufwachte, merkte ich, dass Tonna auch im Zimmer war, sie sass auf einem Stuhl und schaute durch die Balkontüre nach draussen. Sie sah ziemlich durch aus, und ich glaube, ich sagte irgendwas zu ihr, ich weiss nicht mehr was, jedenfalls fing Tonna darauf an zu weinen, so richtig zu weinen. Die Luft war grauweiss vom Rauch, obwohl J eigentlich mal gesagt hatte, man dürfe drinnen nicht rauchen. Bestimmt hat Quentin damit angefangen, der macht sowas immer absichtlich. Ich konnte Tonna nur schemenhaft erkennen; ich hörte sie wimmern und sah, wie sich ihre Schultern vor- und zurückbewegten. Ich ging zu ihr hin und nahm sie am Arm und zog sie auf den Balkon, da ich keine Lust hatte, mit ihr in diesem merkwürdigen Schlafzimmer mit der dunklen Tapete zu sitzen.

Tonna stellte sich ans Balkongeländer mit dem Rücken zum Zimmer, den Kopf in die linke Handfläche gestützt, als würde sie auf jemanden warten. Sie drehte einen Plastikbecher in der rechten Hand auf die eine, dann auf die anderen Seite, und beobachtete, wie Reste eines orangefarbenen Mischgetränkes in den Rillen des Bechers ihre Kreise ziehen. Danach redeten wir, die Worte sind noch da, aber die Bilder dazu schwinden, als wäre Tonna immer hinter dem Rauch versteckt gewesen.



Tonna           Es wird schon hell.

Häschen       Drinnen sieht man ja echt fast nix mehr.

Tonna           Schau dir den Himmel an.

Häschen       Ich hasse es, wenn die Sonne aufgeht, bevor ich schlafen gehe. Allgemein wenn die Sonne während der Party aufgeht. Sie gibt mir immer das Gefühl, das alles zu Ende ist.

Tonna           Oder dass es gerade wieder anfängt.

Häschen      Eben, es fängt schon wieder an. Auf genau dieselbe Art wie am Vortag wie am Vortag wie am Vortag. Die Nacht gibt dir das Gefühl, dass alles sich in diesen Stunden verändern kann und dass am nächsten Tag nichts mehr ist wie zuvor. Wenn du dann die Sonne auf genau dieselbe Weise aufgehen siehst, wie sie es alle Tage zuvor getan hat, macht das alles, was in der Nacht geschen ist, bedeutungslos.

Tonna           Wenn es nicht bedeutungslos wäre, würde es niemand tun. Wenn alles, was wir an Partys tun, irgendeine Bedeutung hätte, würden wir alle am Boden sitzen, uns anschweigen und Himbeeren essen.

Häschen       Was meinst du damit?

Tonna           An Partys ist doch alles scheissegal. Wieviel du trinkst, mit wem du was anfängst, wieviele Zigaretten du schnorrst und an wen du dein Gras verschenkst. Du musst nur Spass haben. Spass ist das oberste Gebot. Und wenn du keinen hast, dann gehörst du da nicht hin.

Häschen       Du hast keinen, oder?

Tonna           Was?
Häschen       Spass.

Tonna           Ich weiss nicht.

Häschen       Klang jedenfalls nicht so.

Tonna           Ich denke, ich hätte Spass, wenn ich mich jetzt auf dieses Geländer setzen würde.

Häschen       Du spinnst.



Tonna setzte sich aufs Geländer. Ich lehnte mich vorsichtig ein wenig darüber. Tonna sah nach unten zur terrakottafarbenen Regenrinne voller Laub und Zigarettenstummel. Ich stand noch eine Weile da. Dann ging ich rein und hob eine halbvolle Ginflasche vom Boden auf. Ich ging zurück auf den Balkon und setzte mich mit der Flasche neben Tonna aufs Geländer.




Beeren
Ich denke noch ein wenig über das Gespräch nach und rauche noch eine Zigarette, als ich durch die Stadt zurückgehe und Una treffe. Ich erinnere mich an das gute Gefühl im Traum mit ihr, mir fallen die Heidelbeeren in meiner Tasche ein und wir gehen zurück zum Fluss. Sie sagt, sie mag den Platz unter der Trauerweide.


Ich küsse Una an diesem Morgen. Ihre Lippen sind ziemlich hart und ganz anders als die von dem Mädchen gestern auf dem Klavier, dem Mädchen ohne Namen. Sie erzählt nachher irgendwas von Adorno, aber ich höre ihr kaum mehr zu. Ich gehe zu meiner Oma, schlafen. Die übrig gebliebenen Heidelbeeren bleiben am Fluss liegen.