Model: Gianna Ferrari |
Musik: The Doors - Unhappy Girl
Wie viel Bier: 5
Erstes Mal: Tonna war 16, und er war ihr Freund.
Aufwachen
Der Himmel ist blau, weissblau, papierblau wie ein Tropfen Tinte in einem Glas Milch. Das Licht fliesst wie Wasser ins Zimmer, berührt die graugemusterten Vorhänge, verfängt sich in den Falten, legt sich auf den Boden und kriecht langsam über den Teppich auf die Wand zu. Die ersten Farben mischen sich ins Grau und ins Schwarz und ins Braun der Nacht, sanft, als kratze man mit einem Schaber die oberste, noch feuchte Schicht eines frischübermalten Ölgemäldes fort und dahinter kämen die alterhaltenen Farben zart und hell zum Vorschein. Der Papagei liegt auf einer Matratze neben meinem Bett und gurgelt seltsame Geräusche im Schlaf. 'Hey', sage ich und stupse mit meiner Hand gegen die Matratze, aber dann frage ich mich, warum ich ihn überhaupt wecken will. Vorsichtig, vorsichtig stehe ich auf, steige über sein Gesicht und das Knäuel, das sein Körper unter der Bettdecke bildet, und kippe das Fenster nach innen. Die Luft, die von draussen hereinkommt, ist warm und weich. Ich gehe wieder an der Matratze vorbei und mache die Tür auf, gehe hindurch und schliesse sie lautlos wieder hinter mir, mit dem Klicken, das Metall macht, wenn es gegen Metall schlägt, rastet die Tür ins Schloss. Im Zimmer lag ein unangenehmer Geruch, der mir erst jetzt auffällt, wo ich nicht mehr diese Luft atmen muss. Nach dem Papagei roch sie und kaltem Zigarettenrauch. Ich gehe in die Küche und mache mir ein Müsli mit Cornflakes und Bananen und setze mich an den Tisch. Es ist noch niemand wach, still liegt das Haus da, das Zwitschern der Vögel dringt nicht durch die dicken Wände, und die Cornflakes in der Schüssel schwappen hin und her. Ich überlege mir, was ich sagen soll, wenn meine Eltern fragen, was das für ein Junge in meinem Zimmer ist und warum er hier schläft. Sie werden denken, ich hätte etwas mit ihm gehabt. Sie werden denken, er wäre mein neuer Freund. Sie werden es sich vorstellen, wie er sich mit mir auf mein Bett fallen lässt und seine Hand über meinen Bauch hinunter bis zwischen meine Beine fährt. Beim Gedanken daran wird mir leicht schlecht. Jedes Mal, wenn Quentin hier übernachtet, macht mein Vater am nächsten Morgen seltsam verklemmte Witze und meine Mutter fragt ihn, wann er denn mit dem Rauchen aufhören will. Meine Mutter hat eine Liste mit bevorzugten Verlobten für mich. Quentin war einmal an erster Stelle, aber dann hat sie herausgefunden, dass er raucht, und da ist er um zwei Plätze nach hinten gerutscht. Und dass er sich einmal über Frauen in Absatzschuhen und kurzen Kleidern lustig gemacht hat, fand sie gar nicht gut, sie hofft noch immer, ich könnte eines dieser Zwitschermädchen werden, die rosa Handtaschen tragen und sich die Augenlider schminken und dann in zu laute Clubs gehen und sich von Männern wie dem Papagei überteuerte Drinks bezahlen lassen, die sie aus langen Strohhalmen saugen, und dass Quentin das anders sah, ärgerte sie. Als ich Quentin von der Liste erzählt habe, hat er gelacht. Und dann war er auf einmal still, und ich wusste, was er gerade dachte: Wenn ich mich einmal verloben würde, dann würde es zwischen uns nicht mehr so sein wie jetzt. Nicht aus Eifersucht, ich würde schon aus Prinzip niemanden von der Liste meiner Mutter nehmen, aber irgendetwas würde ausklingen, die Luft zwischen uns würde dünner werden und aufhören zu vibrieren und wir würden uns seltener sehen und uns über Dinge unterhalten, die uns nichts bedeuten, und irgendwann würde Quentin den Kopf wegdrehen und sagen: Das ist doch banal. Und das wäre es dann auch, wir wären banal, und hätten es nicht einmal bemerkt.
Identität einer Hirschkuh
Wenn meine Mutter
nach dem Papagei fragt, werde ich sagen, der Papagei. Ein Junge, den
ich kenne. Ach, niemand besonderes. Einer von einer Party. Keine
grosse. J. Ja, das ist sein Name, J. So hiess der Junge, der die Party veranstaltete. J. Der
Papagei. Und wenn sie seltsame Namen haben, aber das sind nicht meine
Freunde. Jedenfalls nicht der Papagei. Weiss ich doch nicht, warum
der in meinem Zimmer schläft. Er kam nicht mehr nach Hause. Hat sich
eingeladen. Was sollte ich denn sagen? Ich kann ihn doch nicht auf
der Strasse schlafen lassen.Konnte ich das denn nicht? Ich hätte es tun sollen. Ich kann ihn so wenig leiden, den Papagei.
Der Papagei, der so laut ist und so schrill. Dem ich nicht zuhören mag, wenn er Geschichten erzählt. Weil ich seine Stimme nicht mag und auch, weil seine Geschichten immer auf Kosten anderer gehen. Der, als er jünger war, vielleicht zu viel ferngesehen hat mit seinen soviel älteren Brüdern, zu viel MTV, zu viel VIVA, zu viele nachgestellte Realityserien mit einem Mann, der sich aus fünfzig Frauen die richtige aussucht, obwohl er nicht einmal nett ist, nicht einmal hübsch, nur reich und mit grellen Klamotten, und es gibt Staffel eins, zwei und drei davon, weil wenn es beim ersten Mal so gut geklappt hat, warum nicht noch eine Runde. Er hat so eine blöde Art, sich selbst in den Mittelpunkt zu drängen, sich zu inszenieren, wie Quentin manchmal, laut lachen und andere in Nebensätzen demütigen, das können sie beide gut. Der Papagei, der, weil er selbst so einen bescheuerten Tiernamen hat, allen anderen auch bescheuerte Tiernamen geben will. Hirschkuh hat er mich genannt. Dabei bin ich keine Hirschkuh, ich bin ein Nilpferd, ein grosses, dickes, schweres Nilpferd, das sich im Schlamm am Flussufer wälzt und rote, gelbe und grüne Papageien von seinem Rücken pflückt und frisst und dann die Federn ins Wasser ausspuckt und sie schwimmen obenauf und treiben fort in der Strömung vom Fluss.
Papageienlärm
Ich höre den Papagei erwachen. Ich höre ihn durch die Decke, durch das Holz, in meinem Zimmer, wie er sich im Bett auf die Seite dreht, sich aufsetzt, der Schlafsack knistert, als er ihn zusammenknüllt und gegen das Matratzenende wirft. Ich höre ihn aufstehen, ein wenig unbeholfen, zittrig noch, mit jedem Schritt, den er nehmen muss, um seine Kleidungsstücke einzusammeln, gewinnt er an Sicherheit. Angezogen stellt er sich vor den Spiegel, streckt die Hand nach meinem Deo aus und zieht sie sofort wieder zurück, erschrocken über sich selbst, denn es ist zwar ein Männerdeo, aber dasselbe Deo zu tragen wie eine Frau, so zu riechen wie eine Frau, so zu riechen wie ich, ist für den Papagei mehr als peinlich, es ist beschämend, beleidigend, ein Verrat an ihm und seinem guten Stil. Mit zwei Fingern der linken Hand streicht er die Haare auf den Seiten glatt und strubbelt die oben auf der Kopffläche auf, drückt die beiden Schneidezähne in seinem Mund zusammen, sodass die kleine Lücke zwischen ihnen verschwindet, die immer in der Nacht wieder aufgeht und durch die man, so glaubt er, in seinen Mundraum hineinsehen kann. Er nimmt seinen Kopf in beide Hände, indem er die Fingerkuppen an bestimmte Punkte im Gesicht setzt und die Finger dann auseinander spreizt, sodass seine Züge sich dehnen und strecken und hauttransplantationsartig und grotesk verzerren. Der Papagei zählt bis zwanzig, wartet kurz und zählt noch einmal bis fünfzehn, bevor er die Spannung gehen lässt und die Gesichtshaut an ihren Platz zurück schwappen darf. Er grinst sich im Spiegel zu, ignoriert den ungesunden Blauton um die Augen herum, der vom Alkohol oder dem Schlafmangel herrühren könnte und verlässt mein Zimmer, mit polternden Schritten schwingt er sich die Treppe hinunter. Er ruft nicht nach mir, ich höre ihn im Hauseingang die Schuhe anziehen und sich die Jacke über die Schulter hängen, und dann geht die Tür auf und mit Elan wieder zu und er ist fort, und die Stimmung im Haus verändert sich, ausgehend von mir, als wäre ich mit seinem Abgang einen physischen Schmerz losgeworden, eine Druckstelle, das Wissen, dass er im Haus ist und mit mir sprechen könnte, würde er es denn wollen.
Menschen mit Hüten
Ich laufe auf einem Weg zwischen Bäumen, im Wald, durch das Blätterdach tropft schräg die Sonne, der Waldboden mit den fleckenartigen Lichttupfen hat das Aussehen eines zu gross geratenen, durcheinander geschüttelten Schachfeldes. Durch den Mergel auf dem Kiesweg quellen die Pflanzen, Gras wächst von beiden Seiten auf die Mitte zu, nur auf einem zweihandbreiten Streifen sieht man noch ein Stückchen Weg. Auf diesem Stückchen Weg renne ich, unter Bäumen, unter Ästen, unter Rinde und Blättern und kreischenden Vögeln hindurch.
Ein
verschwitzter Jogger in gelbem ärmellosen Shirt kommt mir entgegen,
ein Mann mit Walkingstöcken, eine Dame mit Dalmatiner und Hut.
Menschen mit Hüten sehen immer ein wenig seltsam aus, ein bisschen
antik, als wären sie aus Modezeitschriften aus dem vergangenen
Jahrhundert hinaus spaziert und könnten den Rückweg nicht mehr
finden.
Häschen
hatte einen Hut an, gestern. Nicht von Anfang an, er hatte den
irgendwo gefunden, in der Garderobe oder im Kleiderschrank von Js
Vater. Er sah damit nicht gut aus, obwohl er das wahrscheinlich
dachte. Ich hätte ihm gerne gesagt, er solle ihn doch ausziehen,
aber es kam mir irgendwie nicht richtig vor, weil er so nett zu mir
war. Quentin hätte es ihm gesagt. Aber Quentin ist manchmal auch ein
Arschloch. Vor allem, wenn er getrunken hat. Als ich gestern
irgendwann in der Nacht mit ihm in diesem Zimmer war, gegen Ende der
Party, bevor Häschen seinen Hut anzog und bevor der Papagei sich auf
mich stürzte, und ich Quentin erzählte, wie einsam ich sei, da ist
er nur dagesessen und hat in die Dunkelheit geatmet. Obwohl wir
allein waren und obwohl er hören musste, dass ich weinte. Er hätte
mir helfen können. Er hätte mich trösten können. Er hätte mich
umarmen können, mir einen Witz erzählen, irgendetwas. Aber er sass
nur da und war still, als wäre er vor Langeweile eingeschlafen, und
da bin ich aufgestanden und aus dem kleinen Gästezimmer hinunter in
das Wohnzimmer gegangen und habe die Bilder an den Wänden
angestarrt, kubistische Malereien und aufgehängte Gedichte von
Christian Morgenstern.
Irgendwann,
als ich die blöden Gedichte schon auswendig konnte, bin ich in das
Nebenzimmer rein, da lag Häschen auf dem weissen Bett, als würde er
schlafen. Er setzte sich auf, als ich eintrat, und fragte mich, warum
ich denn so scheisse aussähe. Das hat er wirklich so gesagt, Tonna,
warum siehst du denn so scheisse aus. Häschen kennt da nichts. Da
habe ich wieder zu weinen begonnen und er hat meinen Arm gepackt und
ist mit mir auf den Balkon gegangen, da sassen wir und haben geredet,
bis Häschen keinen Gin mehr hatte und ich nach Hause wollte und den
Papagei vor der Tür treffen durfte. Ich war so verzweifelt, als sich
der Papagei bei mir einhängte, und ich wollte Quentin noch eine
Chance geben, mir zu helfen, und ich wusste auch nicht, wen ich denn
sonst um Hilfe bitten sollte, also habe ich ihm geschrieben, weil er
irgendwie nirgends mehr zu sehen war, er solle doch kommen und mich
vor dem Papagei retten. Aber er hat nicht zurückgeschrieben,
wahrscheinlich war es ihm egal. Also habe ich den Papagei
mitgenommen. Einen Augenblick lang habe ich mir sogar überlegt, ob
ich nicht mit ihm schlafen sollte, aber das war mir dann doch zu
widerlich, das hätte ich nicht ertragen können. Und ausserdem hätte
es Quentin sowieso nicht gekümmert, er hätte nur eine Augenbraue
hochgezogen und gesagt: Ach. Oder mich ausgelacht, eher.
Eine
durch und durch absurde Idee, also.
Topfpflanze
Topfpflanze
Ich
sitze in meinem Zimmer und trinke Mineralwasser aus einem Weinglas
mit abgebrochenem Boden. Das Zimmer riecht noch nach dem Papagei,
obwohl ich das Fenster schon geöffnet habe, bevor ich Joggen ging.
Ich schliesse die Augen, atme die Luft und erschrecke über den
überraschend heftigen Hass gegen den Papagei, den die Spuren seiner
Anwesenheit in mir auslösen. Ich kenne ihn nicht einmal richtig. Ich
bin ungerecht. Er kann nichts dafür, wer er ist. Ich glaube, wenn
ich ehrlich bin, dann hasse ich ihn gar nicht so sehr. Ich bin wütend
auf Quentin, weil er mich weinen liess und weil er mich nicht
angerufen hat, gestern nicht und auch heute nicht.
Aber
Quentin zu hassen funktioniert auch nicht, weil wenn ich Quentin
nicht mag, dann mag ich niemanden mehr. Ich würde gerne etwas
umarmen, aber ich finde nichts zum Umarmen ausser der blöden
Topfpflanze, die meine Mutter mir ins Zimmer gestellt hat, also nehme
ich die auf meinen Schoss und halte sie fest, aber viel Liebe gibt
sie mir auch nicht zurück.
Gestern Nacht
Gestern
Nacht, als ich mit dem Papagei nach Hause ging, liefen wir durch die
Unterführung nahe am Fluss. Die eine Laterne war ausgegangen, und
die andere Glühbirne von Spinnweben eingehüllt, Spinnweben, die
erzitterten, wenn ihre Bewohnerinnen mit ihren Opfern kämpften.
Metergross warf die Glühbirne die zuckenden Schatten der Spinnen auf
den Boden. Die Wand darunter war grau, ein schmutziges, helles Grau,
das Grau von plattgedrückten Kaugummis und frischgereinigten Mauern.
'Sie
haben die Graffitis weggemacht', sagte ich zum Papagei. 'Nicht
übermalt, mit dem Hochdruckreiniger. Sie sind alle weg. Da, siehst
du? Nur in den Rillen klebt noch die Farbe.' Ich strich mit dem
Finger über Rillen, hoffte, die Farbe würde an meiner Haut kleben
bleiben, aber das war lächerlich und ich hörte schnell wieder damit
auf. 'Ich hab früher auch Graffitis gemalt, als ich sechzehn war.
Graffitiking nannten sie mich. Nicht nur meine Freunde, das ganze
Dorf. Die Bullen haben mir immer aufgelauert, um mich zu erwischen.
Habens aber nie geschafft. Nur einmal, einmal...' Der Papagei schien
ausnahmsweise zu bemerken, dass ihm niemand zuhörte, oder er wusste
nicht, wie seine Geschichte weiterging, er hörte auf zu sprechen und
begann, mich anzustarren.
Ich
konnte seinen Blick in Nacken fühlen, aber ich beachtete ihn immer
noch nicht. 'Ich hätte nie gedacht, dass sie diese Wand je sauber
machen würden. Wie viele Menschen haben sie beschrieben? Wie viele
Zeichnungen, Verewigungen waren hier? Wie viele Sätze sind
verschwunden, verloren gegangen durch fünf Minuten mit dem
Hochdruckreiniger?', fragte ich, obwohl ich wusste, dass der Papagei
als allerletzter eine Antwort darauf hatte.
'Keine
Ahnung. Können wir jetzt gehen? Mir ist kalt.' Demonstrativ zog er
die Schultern hoch bis in den Nacken.
'Mein
Name stand mal hier', sagte ich. 'Meiner und acht andere. Benjamin.
Raffael. David. Céline. Sandra. Gabriele. Marco. Miriam. Und meiner.
Ungefähr hier.' Ich malte mit meinem Finger einen kleinen Kreis um
die Stelle, wo die Namen gestanden hatten. 'Nicht als Graffiti. Mit
Filzstift. Mit schwarzem Filzstift.'
'Weshalb
hast du deinen Namen auf die Wand geschrieben?', fragte der Papagei.
'Nicht
ich. Ich hatte eine Freundin, Ricarda, sie hat das gemacht.'
'Mh.
Ich hatte mal was mit einer Ricarda. Vor etwa zwei Monaten. In einem
Club. Fünf Männer standen um sie herum, wollten mit ihr tanzen, und
dann bin ich hingegangen, gar nichts musste ich sagen, nur meinen
Blick machen, du weisst ja, diesen Blick', der Papagei legte den Kopf
ein wenig schief und starrte mich mit halbgeöffnetem Mund durch
seltsam zusammengekniffene Augen an- 'dem kann keine Frau
widerstehen. Und auch kein Mann. Jedenfalls bin ich zu ihr hin, hab
den Blick gemacht, sie sofort weg von den fünf Männern, zu mir hin.
Getanzt haben wir. Was dann noch alles passiert ist, du willst es gar
nicht wissen.' Der Papagei wartete einige Sekunden, um mir Zeit zu
geben, ihn zu fragen, was dann noch alles passiert war, aber ich
wollte es wirklich nicht wissen. 'Nun ja, vielleicht war es ja
dieselbe Ricarda', sagte der Papagei schliesslich ein wenig
enttäuscht, weil ich ihn nicht fragen wollte, was er alles mit
dieser Ricarda gemacht hatte.
'Ich
glaube nicht.'
'Vielleicht
doch', insistierte er. 'Braunes Haar hatte sie.'
'Ricarda
war blond.' 'Vielleicht hat sie es ja gefärbt.' 'Ich glaube nicht.'
'Warum nicht? Soll es geben. Ich habe mein Haar auch schon gefärbt.
Mehrmals.' 'Ich glaube trotzdem nicht.' 'Warum nicht? Könnte doch
sein.'
'Nein',
sagte ich. 'Nein, es kann nicht sein. Sie lebt nicht mehr hier.'
'Wo
lebt sie dann?', fragte der Papagei. Ich atmete ein wenig ein und
aus, die Nachtluft war tatsächlich kalt geworden, biss in meiner
Lunge, aber vielleicht war das auch nur der Rauch von der widerlichen
Zigarette, die der Papagei neben mir im Stehen rauchte.
'Sie
lebt überhaupt nicht mehr', sagte ich dann. 'Sie ist in den Fluss
gefallen.'
'Oh.'
Der Papagei schwieg einen Moment, hob dann die Stimme eine halbe
Oktave höher als üblich und fragte: 'Gefallen?'
'Nein,
nicht gefallen', sagte ich. 'Gesprungen. Man fällt nicht einfach so
in den Fluss, wenn es Winter ist und schneit und man Kleider anhat,
die sich mit fünf Grad kaltem Wasser vollsaugen werden und einen
nach unten ziehen, noch bevor man Zeit hat, ein letztes Mal Luft zu
holen.'
'Nein',
gab mir der Papagei recht, 'nein, das tut man wirklich nicht.'
Doors
Ich sitze in meinem Zimmer, in dem blauen, viel zu prall gefüllten Sitzsack, den mir mein Cousin vor Jahren zum Geburtstag geschenkt hat. Ich habe mein Handy ausgeschaltet und mir mein Lieblingsbuch genommen und lese nun die Stelle, in welcher Atréju auf die Uralte Morla trifft, nur diese, wieder und wieder.
Mein Vater unten im Wohnzimmer hört Musik, mit dem Plattenspieler, glaube ich. Das höre ich daran, dass es immer nach ein paar Liedern eine Pause gibt, in der er die Platte wechselt oder umdreht. Er hört alte Lieder von den Doors. Irgendwann spielt der Plattenspieler Unhappy Girl. Das ist mein Lieblingslied. Aber ich glaube nicht, dass mein Vater das weiss. Ich glaube nicht einmal, dass er weiss, dass ich die Doors kenne. Mein Vater weiss nicht so viel von mir.
Einmal waren wir in Paris, mit der Schule, da gingen wir auf den Friedhof, dorthin wo der Grabstein von Jim Morrison steht. Da stand ein Mann, fünfzig vielleicht, sechzig, der mit seinem Handy Doors abspielte und auf Jim Morrisons Grabstein starrte und weinte, und ich dachte, es gibt nichts Traurigeres auf der ganzen Welt als ein Mann, der über den Tod eines Fremden weint, als hätte er ihn gekannt.